Belastungsgrenze / Zum „Bürgergeld“

Ausgrenzung bleibt

Mit der Umwandlung von Hartz IV in das sogenannte Bürgergeld will die Ampel-Koalition eine Totgeburt wiederbeleben. Die Geburtsfehler bleiben. Da sind unter anderem die Zusammenlegung des Arbeitslosengeldes II mit der ehemaligen Sozialhilfe, die Praxis der Sanktionierungen und die mittlerweile erheblich zu niedrigen Sätze zu nennen.

Anfang der Woche stellte der Paritätische Gesamtverband und das Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung die Ergebnisse der ersten wissenschaftlichen Langzeitstudie zu Sanktionen in der Grundsicherung vor, die von Sanktionsfrei e. V. in Auftrag gegeben worden war. Das Ergebnis: Hartz IV-Sanktionen verfehlen ihre Wirkung. „Anstatt Menschen nachhaltig in Arbeit zu bringen, haben Kürzungen der Grundsicherung bei Verstößen gegen Auflagen der Jobcenter einen einschüchternden Effekt und können sogar Krankheiten verursachen“, stellte der Paritätische fest. Die Sanktionen würden fast immer eine Kultur des Misstrauens verursachen, weil sich die Menschen eingeschüchtert und stigmatisiert fühlen, sagt die Gründerin von Sanktionsfrei e. V., Helena Steinhaus, anlässlich der Vorstellung der Studie.

Statt der lautstark angekündigten „Überwindung“ von Hartz IV durch das Bürgergeld bleibt es nach den Plänen der Ampel bei der unbewährten Sanktionspraxis. Der Gesetzentwurf für das Bürgergeld gibt den Jobcentern weiterhin die Möglichkeit, Sanktionen bis zu 30 Prozent zu verhängen.

Fraglich erscheint, ob das rechtmäßig ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2019 die Sanktionen teilweise für verfassungswidrig erklärt und sie als schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte bezeichnet. Sie seien nur gerechtfertigt, wenn sie nachweislich eine positive Wirkung auf das Arbeitsverhalten der Betroffenen hätten. Die vorliegende Studie widerlegt diese These.

Doch selbst ohne Sanktionen – der Regelsatz ist zu niedrig angesetzt und schließt eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben weitgehend aus. Zum Start der Einführung des Bürgergeldes am 1. Januar 2023 soll er dann um lediglich 50 Euro auf dann 500 Euro erhöht werden. Ein Blick auf die Entwicklung allein der Lebensmittelpreise zeigt, dass die Menschen mit ihrer Armut allein gelassen werden.

Werner Sarbok –  UZ vom 16. September 2022


Die Arbeiterklasse kann sich den rasant wachsenden Reichtum nicht leisten

Belastungsgrenze

Ulf Immelt,| UZ vom 8. Juli 2022

Der Kapitalismus macht seinem Namen alle Ehre. Nie zuvor gab es so viel Reichtum und niemals konzentrierte sich dieser in weniger Händen. Die zehn reichsten Deutschen konnten ihr Vermögen in den beiden letzten Jahren um rund 35 Prozent auf 242 Milliarden US-Dollar steigern. Das sind 62,7 Milliarden mehr als noch im Februar 2019. Die Reichen sind nicht nur reicher, sondern auch zahlreicher geworden. Laut der französischen Unternehmensberatung „Capgemini“ ist die Zahl der Millionäre in Deutschland 2021 um rund 100.000 gewachsen.

Gleichzeitig hat die Armut in Deutschland im vergangenen Jahr mit einer Quote von 16,4 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. Dies ist die zentrale Botschaft des „Paritätischen Armutsberichts 2022“, der in der vergangenen Woche vorgestellt wurde. In absoluten Zahlen sind 13,8 Millionen Menschen hierzulande von Armut betroffen. Ungewöhnlich hoch ist der Zuwachs von 9 auf 13,1 Prozent unter Erwerbstätigen, insbesondere bei Selbstständigen, die während der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen zu erleiden hatten. Neue Höchststände verzeichnet die Studie auch bei Alters- und Kinderarmut mit 17,9 Prozent beziehungsweise 20,8 Prozent.

Und täglich stirbt das Sparschwein. Früher sparte man auf den Urlaub, heute für die nächste Gasrechnung. (Foto: gemeinfrei)

Die hohe Inflation infolge von Krieg und Krise wird die soziale Ungleichheit weiter verschärfen. Eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung, die ebenfalls in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde, verdeutlicht, dass nicht nur arme Haushalte aufgrund des immer höheren Spardrucks Einsparungen – selbst bei Grundbedürfnissen – planen.

Mehr als die Hälfte der Erwerbspersonen mit niedrigerem Einkommen wird wegen der Inflation den Kauf von Lebensmitteln einschränken. 63 Prozent geben zudem an, beim Kauf von Kleidung inflationsbedingt kürzer zu treten. Der Spardruck betrifft nicht nur Kolleginnen und Kollegen mit geringem Einkommen, sondern wirkt längst weit in die Gesellschaft hinein. Über alle Einkommensgruppen hinweg planen 39 Prozent der Erwerbspersonen, künftig weniger Nahrungs- und Genussmittel zu kaufen. Außerdem geben 62 Prozent aller Befragten bei Warmwasser und 73 Prozent bei Strom an, ihren Verbrauch zu reduzieren. Haushalte mit niedrigen Einkommen liegen bei der Haushaltsenergie noch deutlich höher.

Die Studie zeigt auch, wie groß die Lücken sind, die vor allem die Explosion der Energiepreise in viele Haushaltsbudgets reißt. Knapp 36 Prozent der Befragten geben an, sie benötigten aktuell monatlich 100 bis 250 Euro zusätzlich, um ihren bisherigen Lebensstandard halten zu können. Weitere 25 Prozent beziffern den Bedarf auf 50 bis 100 Euro. 16 Prozent nennen sogar 250 bis 500 Euro.

Dies schreit nach einer „demokratischen, zivilen und sozialen Zeitenwende“ an Stelle eines 100-Milliarden-Sondervermögens für Rüstung und Krieg. Statt milliardenschwerer Steuergeschenke an die großen Konzerne braucht es Entlastungspakete, die den Namen verdienen. Von 29 Milliarden Euro des Entlastungspakets der Bundesregierung fließen gerade einmal zwei Milliarden ausschließlich an einkommensschwache Haushalte.

Damit die Schere nicht noch größer wird, braucht es kräftige Lohnsteigerungen, muss Armut durch eine wirksame Sozialpolitik bekämpft und Reichtum endlich durch eine gerechtere Steuerpolitik begrenzt werden. Wer jedoch hofft, dass dies bei freundlichen Gesprächen mit Regierung und Kapital – ohne massiven politischen Druck und Arbeitskämpfe – umzusetzen ist, glaubt auch, dass das Meer irgendwann süß schmeckt, wenn man täglich eine Flasche Limonade hineinschüttet.