An der Untergrenze

Nachtrag zu der bundesweiten Demo am 16.06 2021

Die Erkentnisse aus der Pandemiekrise, die Diskussionen über unzureichenden Zustände in den Krankenhäuseren und Pflegeeinrichtungen, wird uns noch lange beschäftigen. Umso erstaunliche ist, das inzwischen auch manche Politiker sich eindeutig positionieren. Ob das auch nach den Wahlen so bleibt ist fraglich. Solange die Profitmaxiemirung an der ersten Stelle steht, ist eine Besserung der Situation im Gesundheitswesen nicht zu erwarten.

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Spahn gibt sich als Wohltäter, Gesundheitsversorgung gefährdet

Olaf Matthes,| UZ vom 25. Juni 2021

Wir brauchen eine Revolution in der Pflege“ – auf einer Kundgebung der Gewerkschaft erwartet man solche Sätze. „Wir brauchen keine Ökonomisierung in diesem Bereich, Pflege darf sich nicht an den Abrechnungssystemen orientieren“, schallte es in München bei der ver.di-Aktion anlässlich der Konferenz der Gesundheitsminister am 16. Juni aus den Lautsprechern. Überrascht durften die Zuhörer sein, dass am Mikrofon keiner ihrer Kollegen stand, sondern der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Das Regierungslager sieht sich gezwungen, die Forderungen der Beschäftigten im Gesundheitswesen in Worten anzuerkennen.

Demo Gesundheit
Protest gegen die Konferenz der Gesundheitsminister von Bund und Ländern am 16. Juni in Düsseldorf (Foto: Thomas Brenner)

In mehreren online zusammengeschalteten Aktionen forderte ver.di mehr Personal und höhere Löhne für diejenigen, die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen am Laufen halten. Am selben Tag trafen sich die Gesundheitsminister des Bundes und der Länder und berieten über Corona-Impfzentren und die gesundheitlichen Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche.

„Orange: Versorgung gefährdet – Arbeiten gesundheitsgefährdend“: Das zeigt das „Versorgungsbarometer“, eine Befragung von Beschäftigten, die ver.di bei den Aktionen vorstellte. 12.000 Kolleginnen und Kollegen nahmen von März bis Mai an dieser Umfrage teil und schätzten die Lage an ihren Arbeitsplätzen ein. Den Antworten wurden Werte zugewiesen, die die Qualität der Versorgung in einer Zahl ausdrücken, daraus ergibt sich die Anzeige des „Barometers“.

Beteiligt haben sich nicht nur Pflegekräfte aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, sondern auch Servicemitarbeiter und Psychiatriebeschäftigte. Drei Viertel der Befragten gaben an, die Personalausstattung an ihrem Arbeitsplatz sei „knapp“ oder „viel zu gering“. Ähnlich viele rechnen nicht damit, dass sie unter diesen Bedingungen bis zur Rente in ihrem jetzigen Beruf arbeiten können. Die Antworten zeigen, wie Personalausstattung und Qualität der Versorgung zusammenhängen. Ein Viertel der Beschäftigten aus Krankenhäusern und Altenpflege berichtet, ihnen fehle die Zeit für vorbeugende Behandlungen zum Beispiel dagegen, dass sich Patienten wundliegen.

Die Gewerkschaft hatte in ihrer Mobilisierung zu den Aktionen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorgeworfen, sein Versprechen gebrochen zu haben, die Pflege zu entlasten. Spahn verteidigte sich bei der ver.di-Kundgebung gegen diesen Vorwurf: In seinen drei Jahren als Minister habe er die größte Veränderung in der Finanzierung der Krankenhäuser seit 20 Jahren veranlasst, die Pflege werde nicht mehr nach Fallpauschalen abgerechnet. In diesen 20 Jahren sei „zu oft zu Lasten der Pflege gespart worden“. Mit seinen zahlreichen Gesetzen habe er diese Entwicklung umgekehrt. Das Problem sei, dass Pflegekräfte fehlten, um die Stellen zu besetzen, für deren Finanzierung seine Regierung gesorgt habe.

Auf Spahn antwortete Sylvia Bühler, Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes, dass es am Arbeitsplatz keine Entlastung gegeben habe. Spahn habe zwar viele Gesetze gemacht, aber das Gesundheitswesen sei „immer noch ausgelegt auf Profitmaximierung“. Zwar werde die Pflege nicht mehr nach Fallpauschalen abgerechnet – um ihre Gewinne zu sichern, erhöhten die Klinikunternehmer aber den Druck auf andere Beschäftigte. Bühler verwies auf den Sana-Konzern, der 1.000 Servicekräften kündigen wolle. Das System der Fallpauschalen muss vollständig abgeschafft werden.

Dieses System war 2003 von der rotgrünen Regierung Schröder eingeführt worden. Es richtet die Krankenhäuser am Markt aus. Ähnlich wie mit der Agenda 2010 profitiert die Merkel-Regierung davon, dass die rotgrünen Vorgänger gewaltige „Reformen“ zu Gunsten der Banken und Konzerne durchgesetzt haben.

Merkel und Spahn halten daran fest, korrigieren aber einige krasse Auswüchse dieser Politik – in der vergangenen Woche nutzte Spahn das, um sich als Freund der Gewerkschaften und sozialer Wohltäter darzustellen.

Das Kapital wünscht sich eine Wiederauflage der Agenda-Politik

Neoliberale Retrowelle

Ulf Immelt, UZ vom 25. Juni 2021 |

Deregulierung des Arbeitsmarkts und ein massiver Abbau des Sozialstaats – das waren die zentralen Ziele der Agenda-Politik in den 2000er Jahren. Droht den Lohnabhängigen in Deutschland nun unter den Bedingungen der aktuellen Krise eine Neuauflage dieser für sie so verheerenden Politik?

Wenn es einen „Experten“ gibt, der mit seinem Namen und seinem Gesicht für Sozialabbau im Sinne des Kapitals steht, dann ist er es: Peter Hartz

Das „Institut der deutschen Wirtschaft“ (IW) und die „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ (InsM) haben bereits stellvertretend für die Monopole deren Erwartungshaltung an die Politik formuliert. Nachdem sich in den letzten Wochen Kapitalverbände und ihnen nahestehende Wirtschaftsinstitute für die Rente ab 69 stark gemacht haben, hat in der vergangenen Woche die berüchtigte „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ nachgelegt. Deren Geschäftsführer Hubertus Pellengahr hat das aktuelle Niveau der gesetzlichen Rente von 48 Prozent scharf attackiert. Hier beruft sich der Kapital-Lobbyist auf ein Gutachten des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Das aktuelle Rentenniveau von 48 Prozent würde im Jahr 2040 die Beitrags- und Steuerzahler voraussichtlich 64 Milliarden Euro zusätzlich kosten.

Durch welche Glaskugel die Autoren der Studie geschaut haben, bleibt ihr Geheimnis. Astrologie ersetzt bekanntlich nicht seriöse Wissenschaft. Letztere – insbesondere die Armutsforschung – hat eindrucksvoll belegt, dass selbst das aktuelle Rentenniveau nur einen Bruchteil der Lohnabhängigen vor Altersarmut schützt – auch nach Jahrzehnten der Erwerbsarbeit. Ziel der InsM ist aber bekanntlich nicht eine armutsfeste Rente, sondern niedrige Beitragssätze der Unternehmen und Marktanteile für private Versicherungskonzerne.

Nicht nur die gesetzliche Rente steht unter Beschuss. Geht es nach den Kapitalverbänden, soll auch der Arbeitsmarkt weiter dereguliert werden. Mit den Worten „Um die Lasten der Corona-Pandemie zu bewältigen, müsse statt Steuererhöhungsplänen und anderen Abgabenphantastereien das Wachstumspotenzial des Arbeitsmarktes genutzt werden“, meldete sich in der vergangenen Woche IW-Direktor Michael Hüther zu Wort. Deutlicher kann man nicht formulieren, dass die großen Konzerne und Banken nicht gewillt sind, sich an der Finanzierung der Kosten der Krise zu beteiligen.

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Stattdessen wird verklausuliert die alte These „Sozial ist, was Arbeit schafft“ aus dem neoliberalen Giftschrank hervorgeholt. Hierbei beruft sich Hüther auf eine Studie des eigenen Instituts. Deren zentrale These besagt, dass durch eine graduelle Erhöhung der Erwerbstätigenquote um 2,5 Prozentpunkte sowie der wöchentlichen Arbeitszeit auf das Niveau der Schweiz das preisbereinigte deutsche Bruttoinlandsprodukt nach zehn Jahren um bis zu acht Prozent steigen könnte. In der Schweiz liegt die Jahresarbeitszeit je Erwerbstätigen 11 Prozent höher als in der BRD. Dies macht die Dimension des geplanten Angriffs auf die Arbeitszeit deutlich. Würde man die schweizerische Wochenarbeitszeit und die Jahresarbeitswochen auf das deutsche Arbeitsmarktmodell übertragen, ergäbe dies ein Potenzial von 7,7 Milliarden Stunden oder 4,7 Millionen Vollzeitäquivalenten.

Nicht nur die aktuell eingeforderten Instrumente – Deregulierung des Arbeitsmarkts und Angriffe auf die Arbeitszeit als Stimulanz für Wirtschaftswachstum und Profitmaximierung – erinnern an die 2000er Jahre. Auch die Argumentationslinie erinnert fatal an die der Protagonisten der Agenda-Politik. Damals diente ein vermeintlicher Wettbewerbsnachteil der deutschen Wirtschaft gegenüber den schon in den 1980er Jahren deregulierten angelsächsischen Volkswirtschaften als Argument für die Politik hierzulande. In der aktuellen Debatte muss nun die Schweiz als Beispiel dafür herhalten, wie sogenannte „brachliegende Arbeitsmarktpotenziale“ gehoben werden könnten. Die Folgen der Wirtschafts- und Sozialpolitik der 2000er Jahre sind bekannt: Prekäre Beschäftigung und Sozialabbau für die einen, Profitmaximierung für die anderen. Es bedarf daher mehr als eines Kreuzes am Wahltag, um eine Agenda-Politik 2.0 zu verhindern.